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Zur Entwicklungsmisere in der deutschen Luftwaffe 1939 - 1945

             Milchs Sündenregister

Auf die Karriere des von 1941 - 1944 amtierenden Generalluftzeugmeisters Generalfeldmarschall Erhard Milch näher einzu-gehen ist an dieser Stelle nicht der richtige Platz. Aber da Hitler sich zunächst voll auf Göring verließ und Göring sich bekannt-lich wenig engagierte, war Milch nicht nur von der Dienststellung, sondern auch vom Spielraum her die für die Flugzeugentwick-lung in Deutschland entscheidende Person (was bereits eingangs dieser Arbeit formuliert wurde, aber hier erscheint eine Wie-derholung notwendig). Im Vorkapitel sahen wir, dass Milch auch im Bereich der allgemeinen Rüstungssteuerung eine heraus-ragende Position einnahm. Von seiner wenigstens versuchsweisen, notwendig drängenden Einflussnahme auf die Verteilung der Kapazitäten, insbesondere im Personalbereich, kann jedoch keine Rede sein. In der einen Weise blockierte Milch anstehende und aussichtsreiche Entwicklungen durch Fehlentscheidungen, in der anderen sah er sich nicht veranlasst, die Projekte voranzu-treiben und ließ sie stattdessen versanden.

 

Im Folgenden soll auf die wesentlichen Versäumnisse und destruktiven Eingriffe Milchs auflistend eingegangen werden. Betreff-end Flugzeugklassen wird dabei wieder auf solche zurückgekommen.

 

1. Höhenjäger

Es handelt sich hier um das Schleifenlassen einer selbst erkannten, notwendigen Entwicklung mit kriegsentscheidenden Folgen, weil dadurch die Amerikaner die Luftherrschaft über Deutschland errangen. Milch weiß im Oktober 1942, was zur Jahreswende 1943/44 auf die Luftwaffe zukommen wird: alliierte Jagdmaschinen, die mit einem Höhenmotor mit zweistufigem Lader ausge-stattet sind [1]. Auf deutscher Seite hätte der Motor Daimler-Benz DB 603 einen hervorragenden Höhenmotor abgeben können [2]. Messerschmitt hatte mit seinen Maschinen 209 und 309 auch zwei damit auszurüstende Projekte im Angebot. Im Oktober 1943 wird die Notwendigkeit des Höhenjägers weiter diskutiert [3]. Wobei es aber auch bleibt.

Am Rande fällt auf, dass der als kompetent geltende General der Jagdflieger Adolf Galland sich gegen diese Projekte ausgesprochen und dadurch Milch zumindest nicht vorwärtsgetrieben hat [4]. Für seine Einschätzung liefert Galland keine oder keine nachvollziehbare Begründung. Was an seiner Kompetenz zweifeln lässt.

 

 

 

 

 

 

 

 

2. Fernstbomber

Die Me 264 schlechtzureden und gegen den ausdrücklichen Willen Adolf Hitlers schleifenzulassen kann man als Ungehorsam bzw. Befehlsverweigerung bewerten. Im Frühjahr 1942 findet Milch die Me 264 noch interessant [5], im Herbst 1942 muss bei ihm ein Stimmungsumschwung eingetreten sein [6]. Er redet sich immer wieder auf Startlängenprobleme (die von stärkeren Motoren als den Jumo 211 der V-1 verringert aufgetreten wären) [7] und nicht vorhandene Kapazitäten (für deren Schaffung er selbst an erster Stelle hätte Verantwortung übernehmen müssen, s.o. [8]) heraus. Milch bringt es fertig, seinen Diktator auflauf-en zu lassen. Die notwendigen Arbeitskräfteumsetzungen und Verzichte auf Einziehungen hätte Milch wenigstens Hitler gegen-über vorbringen können, wollte der denn die aufwändige Maschine so unbedingt. Aber er hat nichts dergleichen unternommen. Sabotage kann man auch durch Passivität üben.

 

3. Bomber "B"
Im Kapitel zu dieser Flugzeugklasse wurde die Auftrennung der ineinander greifenden Entwicklung von Junkers Ju 288 und Jumo 222 als "Intrigenspiel des RLM" bezeichnet. Tatsächlich gab es für diesen Schritt Milchs keinerlei sachliche Begründung. Vielmehr ging es ihm darum, die vermeintliche Vormachtstellung der Firma Junkers und ihres Direktors Koppenberg zu neutrali-sieren [9]. Ihm gegenüber (wie zu Messerschmitt und Heinkel) empfand Milch offensichtlich scharfe Rivalität. Die dadurch zu-mindest verzögerte Entwicklung der Ju 288 nahm er billigend in Kauf und setzte so persönliche Motivation über militärische Notwendigkeit. Am Ende verhinderte er die Ju 288 mit dem Argument der Konkurrenz um den Doppelmotor DB 610 mit der He 177 [10]. Damit stand der wohl beste zweimotorige Bomber des Zweiten Weltkriegs der deutschen Luftwaffe nicht zur Verfü-gung.

 

Soweit zu den bereits besprochenen Flugzeugklassen. Milchs negativer Einfluss machte sich auch noch auf weiteren Feldern bemerkbar:

 

4. Flakrüstung

Milch musste seinen Herrn und Meister Hitler nicht immer hintergehen, wie er es beim Fernstbomber getan hatte. Wenn selbiger Unsinn produzierte, konnte Milch ihm durchaus beipflichten. Als versucht wurde, Hitler vom Kurs der völlig übetriebenen, massiv Rohstoffe fressenden Flakrüstung abzubringen, schloss sich Milch dem zunächst an [11]. Aber Hitler drehte Milch um. Ein Kom-mentator vermerkte "überraschenden Sinneswandel" [12]. Zum Schlechteren.

 

5. Strahltriebwerksentwicklung bei Heinkel

Die erste Düsenmaschine und das erste Düsentriebwerk waren bei Heinkel entwickelt worden. Was zu der Hoffnung berechtigte, Maschinen mit Heinkel-Düsentriebwerken hätten auf das Kriegsgeschehen Einfluss nehmen können. Solche mit entsprechender Leistung wurden jedoch bis Kriegsende nicht einsatzreif.
Ernst Heinkel wäre seinen Chef der Triebwerksentwicklung Wolff gern losgeworden, den er, wie sich herausstellen sollte, zu Recht für die Verzögerungen verantwortlich machte. Wolff und der leitende Ingenieur Pabst von Ohain, der das erste Düsentrieb-werk unter Heinkels Obhut konstruiert hatte und dafür als Nationalheld gilt, waren aufgrund christlicher Überzeugung antinazis-tisch eingestellt und hatten mit der Obstruktion Widerstand geleistet [13]. Als Differenzen zwischen Heinkel und Wolff sichtbar wurden, sicherte Milch Wolff per Dekret in seiner Führungsposition ab und verunmöglichte so den Erfolg der Heinkel-Triebwerke [14].

 

6. Sonstiges

Weiter lässt sich behaupten, dass Milch im Fall der He 177 viel zu spät eingegriffen hat. Die Probleme mit der Maschine waren zu seinem Amtsantritt im Herbst 1941 längst bekannt. Systematisch angenangen wurden sie erst viel später. Im Zuge der Dis-kussionen um den Höhenjäger wurde klar, dass die Luftwaffe im Jahr 1944 mit unterlegenen Maschinen würde antreten müs-sen, sollte dieser nicht kommen. Genau diese Maschinen ließ Milch dann in seiner Eigenschaft als Rüstungsverantwortlicher in Massen produzieren. Was widerum auf den Nachtjäger He 219 nicht zutraf, dessen Fertigung die bei Heinkel aufgrund des Bom-berstopps freiwerdenden Kapazitäten hätte belegen können. (Auf die beiden letzten Punkte wird im Kapitel "Dem Ende entge-gen" näher eingegangen.)

 

Wenn man diese Punkte einmal insgesamt sieht und dennoch keine Sabotage sehen will, dann weiß ich nicht, was Sabotage sein soll. Generell fallen bei Milch Rastlosigkeit und Ämterhäufung auf. Anstatt sich auf seinen Kernbereich, die Luftrüstung, zu konzentrieren, befasst er sich in seinen Konferenzen mit einer Vielzahl verschiedenster Themen [15]. Dass er bei dieser (selbst verschuldeten) Belastung den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr gesehen hat, mag man zu seinen Gunsten anführen wollen. Die hier aufgeführte Masse von Fehlern lässt sich aber bei nachweislich besserem Wissen (Punkt 1), Ungehorsam (Punkt 2) und Geltungssucht (Punkt 3) so nicht erklären und braucht auch sonst nicht angenommen werden.

 

Milch galt als tatkräftig und energisch, war aber auch von umstrittener Persönlichkeit. Das Bild eines autoritären Herrschers gibt er in seinen Konferenzen aber keineswegs ab, er führt kooperativ. Die Fehlentscheidungen werden von auch von seinen Mitarb-eitern (Ausnahme Punkt 1) überwiegend nicht gesehen. Ihnen könnte man nun die verengte Sichtweise ihrer beschränkten Ar-beitsbereiche zugute halten. Aber auch das muss nicht in jedem Fall der entscheidende Punkt sein. Insofern ist es natürlich eine Ironie, dass Milch ausgerechnet wegen einer richtigen Positionierung, derjenigen zur Me 262 als Jagdmaschine, seinen Posten als Generalluftzeugmeister verliert.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

[1] Hentschel, S. 61.

[2] Das Diagramm bei von Gersdorff et al.,  S. 107, zeigt klar die Höhen-Überlegenheit des DB 603 über alle anderen gängigen Daimler-Benz-Motoren.

[3] RM-Konferenz vom 14.10.1943 S. 6266ff.

[4] Galland, S. 242, nennt Me 209 und 309 "verbessert, aber nicht eindeutig überlegen". Die Daten in den Wikipedia-Einträgen zu Höh-en- und Geschwindigkeitsleistungen dieser Maschinen widersprechen Gallands Darstel-lung.

Adolf Galland, Die Ersten und die Letzten, Die Jagdflieger im Zweiten Weltkrieg, Franz Schneekluth Verlag, Darmstadt 1953.

 

[5] GL-Besprechungen vom 12. (RL 3/14 S. 527-539) und 19.05.1942 (ds. S. 625 - 633).

[6] 421030 281 sowie RL 3/34 S. 2337 - 2351 (GL-Besprechung vom 30.10.1942).

[7] 430427 308 - 309.

[8] siehe Kapitel "Arbeitskräftesituation".

 

 

 

 

 

 

[9] siehe Kapitel "Bomber B".

 

 

[10] ds.

 

 

 

 

 

 

 

 

[11] Boog {1} S. 206 Anm. 1159.
[12] ds. Anm. 1160.

 

 

 

 

 

 

 

 

[13] Lutz Budraß {2}: Hans Joachim Pabst von Ohain. Neue Erkenntnisse zu seiner Rolle in der nationalsozialistischen Rüstung. (Arti-kel in Technikgeschichte kontrovers. Zur Ge-schichte des Fliegens und des Flugzeugbaus in Mecklenburg-Vorpommern, = Beiträge zur Geschichte Mecklenburg-Vorpommerns, Band 13, Friedrich-Ebert-Stiftung, Landesbüro Mecklenburg-Vorpommern (Hrsg.), Schwerin 2007)

[14] Heinkel, S. 432.

 

 

 

 

[15] Hentschel passim.

Dem geneigten Leser steht es zu, sich selbt ein Urteil über Milch zu bilden, ob er nun mei- ne Einschätzung teilt oder nicht.